23 Mai Wicklow Way von Clonegall nach Shillelagh
Wie steige ich in eine Erzählung zum Wicklow Way ein, in der ich von einer vergangenen Wanderreise erzähle, die ich so in diesem Sommer nicht wiederholen könnte? Der Corona-Virus betrifft uns alle und natürlich auch uns Wanderer, die wir gerne die Natur umarmen. Draußen in der Natur gehen wir einer Infektion zwar aus dem Weg, wenn wir uns umsichtig verhalten und Sicherheitsabstände einhalten, doch verbieten sich Wanderreisen in entfernte Reiseziele von selbst – wenn das Land, in das ich reisen will, nicht ohnehin die Einreise verbietet.
Im Spätherbst 2018 sah alles noch anders aus. Amrei Risse vom Conrad Stein Verlag (mit Amrei hatte ich für mein Sauerland-Wanderbuch, das im selben Verlag erschien, fabelhaft zusammengearbeitet) fragte mich in einer E-Mail, ob ich nicht ein Outdoor-Handbuch zum Wicklow Way schreiben wolle? Wie Amrei darauf kam, gerade mich zu fragen? Nun, ich hatte ihr einige Zeit zuvor so in ungefähr geschrieben, dass ich Wanderbücher zu weiter entfernten Wandertouren wegen des für mich unwirtschaftlichen Aufwands nicht mehr schreiben wolle – es gäbe aber eine Ausnahme: Irland.
Nun plante der Verlag zu jener Zeit, als ich das Amrei sagte, kein neues Irland-Wanderbuch.
Doch eben jetzt. Und deshalb flatterte mir Amreis Anfrage auf den Tisch. Ich zögerte. Allein wandern ist schön. Gemeinsam wandern ist schön. Den Wicklow Way wollte ich keinesfalls alleine wandern. War also doof jetzt. Petra kam die tolle Idee: »Frag doch mal die Jungs.«
Die Jungs waren damals 31 und 29 Jahre alt und hören – so sie denn auf ihre Eltern hörten, was gelegentlich sogar vorkam – auf die Namen Patrick und Dominik. Wie es sich gehört, hatten sie beizeiten das elterliche Haus verlassen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Und zu wandern. Das Letztere ist nicht unwichtig, erinnere ich mich doch noch gut an die Tage, als ich die beiden (abwechselnd) in einem Rückentragegestell über die Berge trug. Jetzt wäre mir das schwergefallen, weswegen ich das »auf eigenen Füßen stehe« umso mehr begrüße.
Beide Jungs also leben nicht mehr unter unseren Fittichen, dafür mit zwei sehr lieben weiblichen Wesen zusammen, Patricks Lebens zudem bereichert um einen kleinen Sohn (der zwischenzeitlich kontinuierlich gewachsen ist). Das ist erwähnenswert, wie sich bald herausstellen sollte.
Es würde also ein weiteres Wanderbuch aus meiner Feder geben. Diesmal geht es jenseits der deutschen Grenzen nach Irland. »Irland: Wicklow Way« soll es heißen, und es wird im Conrad Stein Verlag erscheinen.
Die Jungswandertour-mit-älterem-Anhang wurde also geplant. Für mich hieß dies, Informationsmaterial zum Wicklow Way sammeln. Das Vorgehen unterschied sich erst einmal nicht wesentlich von dem bei meinen bisherigen sechs Wanderbüchern. Gedrucktes Infomaterial ergänzte ich um Dokumente, die ich aus dem Internet beschaffen konnte, dazu Wanderkarten und einiges mehr. Der Wicklow Way ist ja nicht neu und Irland ein Land, das viel für seine Touristen tut, sodass der Stapel verwendbarer Materialien langsam zu einem Hügelchen anwuchs.
Eine wichtige Frage klärten wir recht zügig: Wie organisieren wir die Wanderung? Wir entschieden uns für einen Wanderreiseveranstalter. Mit diesem sprach ich dann die Organisation ab. Denn eine zweite wichtige Frage ergab sich ziemlich rasch: In welche Richtung wandern wir den Wicklow Way? Eine bedeutsame Frage, denn darüber entschied letztlich auch, wie das Wanderbuch gestaltet werden musste.
Genauer gesagt: Der Wicklow Way wurde ursprünglich von Dublin aus in die Wicklow Mountains geführt. Er diente besonders den Einwohnern der Hauptstadt, auf einer längeren Wanderung Landluft zu schnuppern und die Wicklow-Berge zu erwandern. Also raus aus der Stadt und direkt rauf auf den Weg.
Später wurde der Wicklow Way hinunter in den Süden bis nach Clonegall geführt. Das war eine entscheidende Änderung und Ergänzung, denn besonders das Wegstück von Tinahely nach Clonegall ist flach im Vergleich zu den bergigen Passagen. Dort lässt sich bequemer wandern. Wanderer, die den kompletten Wicklow Way wandern, sind zudem der Meinung, dass gerade dieses Stück Wicklow Way nicht zu den schöneren Passagen zählt.
Deshalb verwunderte es mich nicht, dass viele Wanderer mittlerweile den Wicklow Way von Süden nach Norden wandern. Weitere Gründe zähle ich im Wanderbuch auf, für mich stand jedenfalls fest, dass ich die Süd-Nord-Variante angehen wollte. Und vorweg: Genau so war es richtig.
AbenteuerWegeReisen, unser Reiseveranstalter, legte uns dann auf Wunsch genau ein solches Angebot vor, zu dem wir nicht nein sagen konnten. Acht Etappen umfasste die Wandertour, Unterkünfte waren an Orten nahe bei gebucht, die Organisation von Hin- und Rückreise oblag uns selbst.
Passt!
Ja. Und doch: denkste. Patrick, unser ältester Sohn, laboriert in der Folgezeit weiter, und obwohl er dachte, bis zum Reisetermin wieder fit zu sein, zeichnete sich mit jedem vergehenden Tag mehr und mehr ab: Das wird nichts. Patrick musste absagen.
Meine Verzweiflung fasse ich nicht in Worte, und Patrick wird sich nicht minder mies gefühlt haben. Aber er musste aussteigen, noch bevor wir richtig eingestiegen waren. Unser Team war gesprengt, ohne dass wir’s ändern konnten. Was also tun?
Und da komme ich kurz auf die erwähnten »zwei lieben Wesen« an den Seiten unserer Jungs zu sprechen. Lisa steht an Dominiks Seite (und umgekehrt). Und Lisa ist weltgewandt und vielgereist und immer für neue Erfahrungen zu begeistern. Nachdem ich einige Möglichkeiten durchgespielt hatte, die alle zu keinem positiven Abschluss führten, landete meine Frage bei Lisa. Und wider meine Erwartung kam sofort ein »Machen wir!«
Geschwind war alles Weitere abgehakt. Mit Patrick verabredeten wir, dass wir uns in Dublin sehen; er wollte seine gebuchte Reise umbuchen und wenigstens gemeinsam mit uns durch Dublin stromern.
Der Wicklow Way also konnte kommen! Oder besser: Wir konnten zum Wicklow Way aufbrechen. Zwar anders als geplant, aber wir waren quasi mit einem blauen Auge davongekommen. Oder mit einem grünen Auge. Es ging ja nach Irland.
An einem wolkigen Morgen im Juni rauscht Dominiks Wagen gen Flughafen Köln/Bonn. Dublin ist bestens angebunden an alle möglichen Flughäfen.
Für Wanderreisen gebietet sich per se nur geringes Gepäck, auch wenn wir für unsere Wandertour eine Gepäckbeförderung von Übernachtungsstätte zu Übernachtungsstätte vereinbart haben. Dabei bestehen aber Gewichtsbegrenzungen, weshalb wir auf unsere manns- und fraushohen Schrankkoffer verzichten und stattdessen handliche Gepäckstücke mit sinnvollen Gütern bestücken. Was wir auf die Wanderreise mitnehmen, erschließt sich aus dem Wanderbuch, indem ich auch in einem gesonderten Kapitel die Gegenstände aufliste, die wir über die gewohnten Wanderutensilien hinaus eingetütet haben.
Mit leichtem Gepäck also treten wir in aufgeregter Laune unsere Reise an. Der Flug dauert rund zwei Stunden und zischt sehr ereignislos an mir vorüber. Das Procedere beim Ankommen kennt jeder, da unterscheiden sich die Flughäfen wohl nur wenig voneinander. Unser Gepäck landet vollständig in unseren Händen. Das leichte Gepäck kommt uns sehr entgegen, denn nun heißt es: Das Weite suchen.
Der Wicklow Way startet in Clonegall, einem kleinen Flecken abseits großer Städte. Das Problem landflüchtiger Menschen kennt auch Irland. Die Dörfer verlieren ihre jungen Menschen, Geschäfte schließen, Restaurants und Pubs versperren ihre Pforten für immer. Zudem strotzt Clonegall nicht vor Übernachtungsstätten. Unser Reiseveranstalter hat uns ein B&B in einer nahe gelegenen Stadt, nämlich Bunclody, reserviert. Dorthin müssen wir also.
Den Busbahnhof am Flughafen finden wir dank des guten Leitsystems schnell, die Suche nach der richtigen Busverbindung gestaltet sich etwas langwieriger. Und damit wir uns so richtig gut fühlen, nieselt es los. Sanft und sacht, aber stetig. Der pünktlich eintrudelnde Bus beschützt uns davor, richtiges Irland-Feeling zu spüren. Das Haupthaar bleibt trocken und sitzt weiterhin wie geschmiert.
Für die Fahrt nach Enniscorthy berappen wir unser Fahrgeld, das jeden Cent wert ist, wie wir bald erfahren. Wir werden durch die Rushhour in Dublin chauffiert, gelenkig lotst der Fahrer das Gefährt entlang von viel zu schmalen Straßen, und doch kann er nicht vermeiden, dass wir wertvolle Sekunden und bald Minuten auf der Strecke liegen lassen.
In Enniscorthy wartet unser Anschlussbus nach Bunclody. Oder, wie war von Minute zu Minute mehr ahnen: Er wird nicht warten. Und so eilt die Landschaft gemeinsam mit der Zeit an uns vorbei. Nahe bei der Küste führt die Schnellstraße gen Süden, nur sehen wir von der Irischen See eher wenig. Zum einen tröpfelt feiner Regen die Scheiben hinab, zum anderen sähen wir auch bei Sonnenschein nichts als leicht gewellte Landschaft.
Unser Busfahrer drückt ganz ordentlich aufs Tempo, wird aber nicht weit vom Ziel entfernt vor den kleinen Dörfern ausgebremst. Es sieht so aus, als ob just jetzt alle Bürger des Landes aus der großen Stadt (Dublin) in die kleinen Städte und Dörfer nach getaner Arbeit zum Wochenende heimkehren. Es staut sich wie sonst nur in der Neuwieder City beim Currywurst-Festival. Die Zeit fliegt weg, und mit ihr unsere Hoffnungen, den Anschlussbus kapern zu können.
Unter Einsatz unserer Smartphones gucken wir nach Alternativen. Der nächste Bus fährt um einiges später, wäre machbar, aber unschön und ein hetziger Start in einen gedacht entspannten Urlaub. Aus der mehr als halben Stunde, die wir eigentlich Zeit haben, wird ein unfeines »auf die Minute«, bis wir vor Enniscorthy zum Stillstand kommen. Als wir im Ort aussteigen, sind wir zu spät. Es gibt Schlimmeres. Wir richten uns seelisch aufs Warten ein. Es nieselt. Wir beglückwünschen uns, die Schrankkoffer nicht dabei zu haben. Das leichte Gepäck bugsieren wir aus dem Bus.
Dann fährt der Anschlussbus um die Ecke. Hält. Wartet. Auf unser erstauntes Fragen erklärt unser Busfahrer, sich mit seinem Kollegen in Verbindung gesetzt und ihn gebeten zu haben, auf uns zu warten. Wir grinsen dankbar. Und werden vom zweiten Busfahrer mit »You are the tourists« begrüßt. Die Iren haben schon vor dem Beginn unserer Wanderung ein lautes »Wunderbar!« eingeheimst.
Nach Bunclody ist’s nicht allzu weit – wiewohl wir die Strecke mit Gepäck nicht hätten zu Fuß bewältigen wollen –, am Marktplatz steigen wir aus und stromern die letzten paar hundert Meter bis zum Millview House entlang einer vereinsamten Landstraße. Schön abgelegen vom quirligen Dorfleben rund um den Marktplatz liegt unser B&B inmitten eines großen Gartenstücks mit Blick auf die Blackstairs Mountains, die noch weiter südlich liegen. Schön zum Angucken, aber nicht das Ziel unserer Wandertour.
Nach einem sehr freundlichen Empfang und dem Verstauen unserer Utensilien fährt uns James zurück zum Marktplatz. In Bunclody befinden sich ein paar Möglichkeiten zum Essen, wir nutzen die Gelegenheit, unser erstes Fish & Chips heißhungrig zu verputzen.
Gut genährt und glänzend gelaunt stapfen wir zum zweiten Mal mitten aus Bunclody an den Rand von Bunclody und verabschieden uns in unsere Zimmer.
Dann dräut der Morgen, Zeit, um den Tagesrucksack zu beladen. Im Grunde packe ich nichts Anderes als für eine Tagestour im heimischen Gelände ein – natürlich mit Blick darauf, dass wir in Irland für alle Wetter gerüstet sein müssen. Wie ein echter Wandersnob klemme ich deshalb sehr lässig meinen Wanderschirm an die Seite meines Rucksacks.
Das Frühstück ist reichlich, denn ich verleibe mir ein irisches Frühstück ein. Das sättigt gut und hält lange vor. Für den Tag erhalten wir noch ein kleine Tagesverpflegung, dann packt uns James wieder ins Auto, nachdem wir Elizabeth, der Dame des Hauses, Lebewohl gewünscht haben.
Meine erste Fahrt als Beifahrer im Auto eines echten Iren! Holla, die Waldfee, sage ich da nur. Selten halte ich mich beim Autofahren irgendwo fest, diesmal tue ich’s. Irlands Straßen haben im Laufe der Jahrzehnte eine gute Entwicklung durchlaufen, sie sind breiter geworden und weniger »hubbelig«. Keine Ahnung, weshalb dieser zivilisatorische Fortschritt auf allen Straßenstücken, die James durchholpert, noch keinen Einzug gehalten hat. James nimmt die Kurven wie früher unser Vettel, als der noch Rennen gewann. Mit dem Unterschied, dass Vettel selten ein anderer Wagen entgegenkam.
Wir kommen wohlbehalten an. James lässt uns erschöpft aus dem Auto gleiten, schießt dann noch ein Foto, auf dem wir am offiziellen Startpunkt im kleinen Park in Clonegall mit unsteten, noch auf der Fahrt befindlichen Augen durch die Lanschaft schauen, und verabschiedet sich von uns.
Fortan sind wir nun für den langen Rest des ungewissen Tages in einem uns völlig fremden Land auf uns alleine gestellt.
Okay, das hört sich nach dem miesen Anfang eines Abenteuerromans an, bei dem drei Freunde unverschuldet auf einer Insel gestrandet sind, alleine mit wilden Tieren und giftigen Pflanzen und einer Handvoll fauligen Wassers. Dem ist natürlich nicht so. Der Wicklow Way ist nämlich nicht nur fabelhaft gut ausgeschildert (in beide Gehrichtungen nebenbei), sondern führt auch nicht durch undurchdringliche Wildnis, sondern durch die Zivilisation.
Wobei der Weg selbst keine Siedlungen berührt (mit einer Ausnahme, aber das erfährst du erst auf einer der folgenden Etappen), sondern nur hier und da Wohnhäuser streift oder Farmen berührt. Nur für die Übernachtungen sind die Abstecher in die Ortschaften nötig, wenn nicht das B&B oder die Übernachtung außerhalb eines Dorfes liegt.
Ich verfasse hier für den »Schlenderer« keine ausführliche Wegbeschreibung, denn die findet sich im Outdoor-Handbuch zum Wicklow Way, das ganz neu im Conrad Stein Verlag erschienen ist. Auch alle notwendigen Angaben zu den Übernachtungs- und Einkehrmöglichkeiten und zu den Sehenswürdigkeiten und vieles mehr finden sich im Handbuch. Wer dem Link folgt, kann das Buch direkt beim Verlag bestellen. Auf der Seite kannst du auch einen Blick ins Buch werfen.
Stattdessen erzähle ich hier, was mir darüber hinaus wichtig erscheint oder was in einem Wanderbuch nichts zu suchen hat. Wer also erwartet, detaillierte Informationen zum Wicklow Way zu erhalten, den verweise ich aufs Buch. Das ist schön dick und seinen Preis sicher wert. Und natürlich erzähle ich die Dinge aus meiner Sicht – wie meine beiden Mitwanderer sich fühlen, kann ich nur erahnen. Und Ahnungen sind was für Horrorromane, nicht für Reiseberichte. Also konzentriere ich mich auf mich, und du wirst den Weg mit meinen Augen sehen. Wenn du den Weg eines Tages nachwandern wirst (oder ihn bereits gewandert bist), wirst du eine andere Sicht gewinnen.
Die ersten Schritte sind wichtig. Die lange Vorbereitungszeit liegt jetzt hinter mir, die Anspannung bleibt, aber ein Gefühl der Ruhe macht sich breit. Wir sind in Irland angekommen, und wir werden wandern. Alles ist bis dahin gut verlaufen, wenn auch mit Haken. Aber der Wanderung steht nichts mehr im Weg (vorausgesetzt, es stellt sich jetzt nicht eine Kuh quer in den Weg, aber das ist nicht zu erwarten. Ähem, jedenfalls nicht sofort, doch dazu an einem anderen Tag mehr). Das Gefühl ist vermutlich keinem unbekannt – man fiebert einem Tag X entgegen, an dem etwas »losgeht«. Und wenn dieser Tag X dann da ist und die Sekunde geschlagen hat, so geht es mir, fällt wie ein überflüssiger Rucksack viel von der Last herunter.
Okay, wenn das Bildliche jetzt zum Tatsächlichen würde, wär’s fatal, denn den Rucksack brauchen wir noch. Habe ich jemals erwähnt, dass ich keine Wanderung ohne Fressalien starte? Und »Wanderung« definiert sich bei mir mit »alles, bei dem ich Wanderschuhe trage«. Böse Zungen behaupten, ich würde deshalb das Haus nur in Wanderschuhen verlassen.
Unsere Tagesrucksäcke sind übrigens ähnlich gepackt wie zu jeder x-beliebigen Wanderung in den heimischen Mittelgebirgen. Gepäcktransport macht es möglich, dass wir nicht alles mitnehmen müssen. Das macht es erträglich, und auf jeden Fall gehen wir beschwingter, als wenn wir unser gesamtes Gepäck schultern müssten. Manchmal empfinde ich mich dann wie ein Wohlfühl-Wanderer, dem jede Last zu viel zu viel ist. Ganz ehrlich, das gefällt mir. Warum sich selbst kasteien, wenn es leichter geht. Der Wanderweg verliert dadurch ja nicht an Schönheit. Als Macho-Wanderer würde ich sowieso auf die Frage: »Hey, auch deinen gesamten Hausrat auffem Rücken gehabt?« antworten: »Ja, und den meiner Freundin. Die hat nämlich Rücken.« Es lässt sich immer noch einer draufsetzen …
Zurück zum Weg. Der ist anfangs unspektakulär. Und trotzdem ist es ein gelungener Einstieg, der mir ja wichtig ist. Die ersten Schritte auf einer Mehr-Tages-Tour, und die kotzen einen an? Schlecht, mit einem schlechten Gefühl eine vermutlich strapaziöse, jedenfalls anstrengende Sache zu starten. Derweil ich das hier schreibe, lassen wir die letzten Häuser von Clonegall hinter uns. Sehr viel bei der ersten Etappe läuft über asphaltierte oder geteerte Straßen, Sträßchen und Wege. Das muss man mögen. Gefühlige Wanderer bestehen ja immer auf »pfadig«, darunter sinken die Mundwinkel Richtung Kinnpartie.
Mir macht es an diesem Tag nichts aus. Ich freue mich so darauf, endlich wieder Irland ganz nahe zu sein, dass der harte Boden sich fast wie Wolke 7 anfühlt. Die Füße fliegen drüber hinweg, und wichtig ist, was drumherum zu sehen und zu spüren ist. Und das ist Landschaft pur, ländlich gegliedertes Gelände, Weideland links und rechts, Muhen und Mähen hinter den Hecken, die sich entlang der Straße auftürmen und nur da die Sicht ermöglichen, wo ein Tor Zugang zur Weide gewährt. Und da stehen sie dann, mal weiter weg grasend, dann ganz nahe bei uns, dass wir handgreiflich werden könnten.
Und so ziehen die ersten Kilometer vorbei. Sanft steigen die Hügel etwas weiter aufwärts, immer grün begrast und so, als sei vorhin noch der Regen auf sie niedergegangen und habe ihnen ein taufrisches Aussehen verpasst. Dabei regnet es gar nicht, die Luft ist angenehm mittelwarm, so um die 15 Grad, und wird den ganzen Tag über in dem Bereich pendeln. Manchmal traut sich die Sonne zu uns, als wolle sie neugierig gucken, wer denn da des Weges wandert. Prima Klima also in Irland.
Erwähnte ich eigentlich, dass ich im Vorfeld zu einem Wetterbericht-Junkie mutiert bin? Wer wünscht sich nicht wunderbares Wetter auf seiner Wanderung. Und mir ist es noch dazu ein Anliegen, dass meine Fotos fürs Wanderbuch lachende Menschen unter lachender Sonne zeigen. Wenigstens manchmal. Ach, lieber doch häufiger. Das macht mehr Stimmung – bei mehr (während der Wanderung) und beim Leser (während des Schauens). Das wird nicht immer gelingen, aber spiegelt letztlich dann genau das wider, was Irland auszeichnet: Launenhaftes Wetter mit gut gelaunten Wanderern. Vorweg gesagt: Genau so wird es kommen.
Zwischenzeitlich haben wir an der Wicklow Bridge die unsichtbare Grenze zwischen den Counties Carlow und Wicklow überquert. Wo Wicklow ist, können die Wicklow Mountains ja dann nicht mehr so fern sein. Ein bisschen Vorgeschmack bekommen wir auf den folgenden Meilen. Leichtes Auf- und Abwippen des Wicklow Ways, nichts Bewegendes für die Beine, denn die Anstiege sind höchst moderat, wie man so sagt, und werden aufgewertet durch weite Aussichten übers Land. Manchmal verharren wir, dann mache ich Fotos, oder wir gucken einfach. So einfach geht Entspannung.
Den ersten Wald durchforsten wir bei Ballybawn. Fichten, so weit das Auge reicht. Fichten sind in den Wicklow Mountains oft das grüne Kleid Irlands. Als Einzelbaum ganz nett, wenn sie sich aber zu größeren Gruppen zusammenrotten, schaut das manchmal doch schaurig-düster und sehr eintönig aus. Wie bei uns in Deutschland stellt der Wald ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor dar. Darüber lässt sich klagen, andererseits brauchen auch wir das Holz nicht nur für die Hütte, sondern auch fürs Klopapier, für die Stühle und die Balken und noch mehr. Irgendwoher muss es kommen, und aus welchem akzeptablen Grund aus der Ferne, aus Weitost oder Weitwest? Deshalb sind solche Wirtschaftswälder nötig, auch wenn sie das Gemüt des Wanderers arg strapazieren. Ein bisschen Mischwald wäre aber nicht nur gut fürs Auge, sondern sicher auch für die Wälder selbst, wenn die Borkenkäfer kommen oder die Stürme.
… doch so endlos sind die Wälder in Irland nicht, und irgendwann passieren wir Waldende und sehen wieder unverbaute Landschaft. Hier und da liegen Gehöfte wie Flecken in der grünen und sandfarbenen Landschaft, manchmal staubt ein Hund durchs Tor und bellt uns eine fremdsprachige Botschaft zu. Andere bleiben im abgegrenzten Areal, aber dazu habe ich ein paar Worte im Buch selbst verloren.
Und es sind so viele Schafe! Und Esel! An einer Straßeneinmündung, die links zur sehenswerten ruinierten Aghowle Church führt, grast eine Handvoll Esel gemütlich vor sich hin. Ein bisschen dieser Gemütlichkeit hätten wir auch gerne, denn nun geht es bergauf. Nicht richtig hoch, dazu sind die Berge an den ersten Tagen doch zu sehr behagliche Hügel, denke ich.
Und werde, als der Weg grasiger wird, eines Anderen belehrt. Immerhin ist der vor uns liegende Hügel 420 Meter hoch. Und damit eher ein Berg mit Namen Stookeen. Ganz hinauf fauchen wir nicht, ein paar Terrassen tiefer hat es sich mit dem Anstieg, dafür thronen dort ein paar knuffige Felsen, auf denen wir uns zur ersten Rast auf dem Wicklow Way niederlassen und die Aussichten gemeinsam mit dem ersten Sandwich genießen.
Was vom Weg noch übrigbleibt an diesem Tag, ist dann pure irische Gemütlichkeit. Wir sind oben und müssen nur noch runter. Raheenakit Forest heißt das Waldstück, durch das wir mal schlendern, dann außen herum unserer Wege ziehen, vorbei auch an abgeholzten Flächen – oder war’s ein Sturm, der den Fichten hier den Garaus machte? Nicht immer ist das eindeutig sichtbar.
Noch ein paar letzte Meter streunen wir über den grasbewachsenen Weg, dann erreichen wir eine schmale Straße. Ein Wegeschild weist nach links den Hang hinauf, dorthin werden wir dem Wicklow Way am nächsten Tag gern folgen. Heute aber haben wir unser Tagwerk vollbracht, und wir schlagen den rechten Weg ein, der strack runterführt. Später, an einer Kreuzung, laufen wir nach links, immer harten Asphalt unter den Füßen, bis wir Shillelagh erreichen. Weite Rasen säumen die Häuser am Ortsrand, dann ein Neubauviertel, erst im Ortskern wird es baulich enger, der Kirchturm streckt sich rechter Hand auf einem kleinen Hügel himmelwärts, links sehen wir einen Park. Und bald darauf einen Take-away bei einer Tankstelle samt Mini Mart, in dem wir uns nachher mit dem Nötigen für den kommenden Tag versorgen werden. Gleich links noch Kenny’s Bar & Lounge. Doch bevor wir uns einen hinter die Binde kippen, trippeln wir die letzten Meter bis hin zum Olde Shillelagh.
Unsere Übernachtung ist nämlich im Olde Shillelagh Guest House gebucht worden. Wir stehen vor dem Gebäude, betrachten uns die Fensterauslage, hier werden die Shillelagh gefertigt, Stäbe aus Schwarzdornholz. Auch dazu schreibe ich im Buch alles Wissenswerte. Das Geschäft ist geschlossen, durch die Fenster spähen wir hinein, drinnen schaut’s sehr antik aus, wie einer dieser aus der Zeit gefallenen Fahrradläden im Film, bei dem das Interieur schon mit einer dicken Schicht Patina bedeckt ist. So wie man sich in romantisierenden Träumen ein Lädchen wünscht, in dem einem Kunden die Wünsche von den Augen abgelesen werden von einem hutzeligen Kerlchen, das sich seine Finger am Kittel sauberschmiert …
Liz erscheint, als wir an der Nebentür klingeln. Liz ist mitnichten »hutzelig«, sondern stellt sich als selbstbewusste, kompetente Gastgeberin heraus, die uns herzlich begrüßt und unsere Wünsche nachgerade von den Augen liest.
Wir werden in den Gartenbereich gelotst. Dort zeigt sie uns drei zwei schmucke Zimmer in einem Nebengebäude, das früher sicher einmal als Werkstatträume diente, jetzt aber heimelige Atmosphäre atmet. Die Decken sind richtig schön hoch und luftig, vom Fenster schweift der Blick in den kleinen Garten. Wohlfühlen ist angesagt – aber das erst später.
Wir vertreten uns die Beine, muten uns aber nach der Wanderung nur wenige Meter zu. Im Grunde hätten wir da sogar hinfallen können, denn wir wollen nur zu »Kenny’s Bar«. Die Außenbestuhlung ist aus handfestem Holz geschaffen, drinnen geht’s enger zu, aber wir gehören zu den wenigen Gästen, die so früh am Abend hereinschauen. Während Dominik und ich uns ein Guinness verzapfen lassen, lässt Lisa sich beraten. Und die liebe ältere Dame am Zapfhahn füllt ihr Glas mit einem »Smithwick’s«, von dem wir uns zu allererst die richtige Aussprache ans Herz legen lassen.
Mit nur noch kurzzeitig gut gefüllten Gläsern gehen wir nach draußen, sammeln die letzten Sonnenstrahlen des Tages ein und schlürfen doch ein ganz klein wenig müde unsere Biere. Am liebsten würde ich jetzt die Beine auf dem Tisch ausstrecken und die Augen schließen, aber alles geht als Gast in einem fremden Land doch besser nicht. So schließe ich nur kurz die Augen …
Dabei muss wohl mein Magen einen Hilferuf gesendet haben. So richtig Lust auf auswärts essen haben wir nicht, weswegen mir der Einwurf meiner beiden Mitwanderer: »Wir haben da was« sehr recht kommt. Während wir früher beim Zelten Nudeln mit Rindfleisch aus der Dose heiß machten, gibt es heute solche Leckereien direkt im Komplettpaket. Ein Suppentöpfchen ist’s, mit einer fernöstlichen Kreation. Aus Trockenpampe wird rasch Nasspampe. Wobei es mich wundert, dass der Inhalt einer dermaßen winzigen Schale aus Plastik den Hunger besänftigen soll. Schnell gemacht ist es ja: Heiß Wasser drauf, und gut ist. Es sättigt durchaus, und wenn ich an die EPa-Ration beim Bund (Spaghetti mit Tomatensoße) denke, dann hat dieses zierliche Töpfchen sogar was für sich.
Nachher langt die Energie noch für einen abendlichen Solo-Spaziergang in der Sonne. Ich betrachte mir die Kirche von Nahem und flaniere durch den verwaisten Park mit einigen Schautafeln zum Shillelagh Stick und einer kleinen Shillelagh-Stick-Statue. Beschaulich neigt sich der Tag dem Ende zu …
… und ich begrüße das Kopfkissen mit einem seligen »Gute Nacht!«
Wir aber lesen uns am zweiten Tag auf dem Wicklow Way wieder.
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