12 Sep „There and Back Again“ – oder: Für Bilbo wär’s nur ein Spaziergang (Irland – der Sonntag)
10 Kilo für 2 Personen täglich sollten doch reichen? Jedenfalls schleppen und ziehen wir das gesamte Kofferzeugs durch die Gänge des Köln-Bonner-Flughafens (der ist bereits fertiggestellt, was heutzutage nicht ganz unwichtig ist) und reihen uns brav in die diversen Kontrollschlangen ein. Spätestens bei der 17. Passkontrolle ist klar, warum die Personalausweise aus grifffestem Kunststoff und nicht mehr aus Labberpapier bestehen. Doch anders als beim Fußballspiel vor wenigen Wochen (als ich das Argentinien-Trikot trug) werde ich nicht angefasst und abgetastet und muss mich auch nicht auf den Hinweis „ziehen Sie doch mal bitte ihr Trikot hoch!“ (in einem immerhin umgänglichen Tonfall) halb nackt präsentieren. Mein Waschbrettbauch geht nämlich keinen etwas an außer …
So durchgecheckt geht’s doch noch an Bord. Das wäre nun nicht der Rede wert, aber ich hole etwas weiter aus, bevor ich auf unsere kleine Wanderung am späteren Nachmittag zu sprechen komme. Wir – Petra und ich – fliegen nicht sehr oft; die Anzahl der Flüge können wir noch an zwei Händen abzählen. Aber ich fliege gern. Erst recht, wenn ein Irland-Urlaub ansteht: von Sonntag bis Freitag, mittendrin ein runder Geburststag (nicht meiner). Unser Ziel ist Bray, ein Badeort südlich von Dublin. Wir wollen die Wicklow Mountains kennenlernen.
Das fliegt mir noch so durch den Kopf, als ich gutgelaunt aus der Luke gucke und die Startvorbereitungen bestaune. Und dann stiere ich weiter, folge dem Flieger mit den Augen, wie er abhebt und wie sich die Startbahn Meter für Meter entfernt, immer weiter. Immerimmer weiter. Auf den Punkt gebracht: Das ist ein dämlicher Fehler. Der Mensch als solches ist ein eigenartiges Lebewesen. Er macht sich Gedanken. Oft genug zum falschen Zeitpunkt. Gut, es ist ja nie verkehrt, verschiedene Szenarien durchzuspielen und sich damit auf bestimmte Situationen vorzubereiten. (Die treten so natürlich niemals ein.) Doch muss man – und in diesem Falle ich – an einen spektakulären Absturz denken, während die Maschine sich im Steigflug in immer höhere Sphären schraubt? Für einen Moment stelle ich mir also vor, was ich für ein Tohuwabohu erzeugen könnte, spränge ich schreiend und wild gestikulierend und nach Luft schnappend auf (falls dies alles auf einmal überhaupt ginge).
Wie gesagt, es geht alles gut. Aber bei der Landung bin ich reichlich bedient. Womöglich spielt da noch mit, dass ich seit einigen Jahren nicht mehr auf der falschen Seite gefahren bin. Der Mensch – dieses erwähnte eigenartige Lebewesen – wird mit den Jahren nicht flexibler, und die Geschmeidigkeit lässt nicht nur körperlich nach. Neue Situationen fordern heraus. Mal abgesehen davon, dass uns der von zuhause gewohnte Toyota Yaris vorenthalten wird (Sixt-Mitarbeiter in einem umgänglichen Tonfall: „Ich habe ein Upgrade für Sie, einen VW Polo!“ – Fahrer in spé: „Ach!“), stellen die Straßen in Irland einen Mitteleuropäer noch immer auf harte Proben.
Petra schreit die knappe Stunde über, die wir für die Fahrt in unser Hotel in Bray (circa 20 Kilometer südlich von Dublin – der Flughafen liegt im Norden Dublins, man umrundet die Hauptstadt auf der erstaunlich gut ausgebauten M 50) benötigen.
Wir kommen an, ich reichlich unsortiert. Das Wilton-Hotel am Rande des mit 26.000 Einwohnern gar nicht so kleinen Badeorts empfängt uns modern im Foyer und überrascht uns recht plüschig auf dem Zimmer. Der Sonntag ist noch nicht gelaufen. Uns steht der Sinn nach Landschaft. Und deshalb hole ich auch so weit aus.
Wir studieren kurzerhand unsere noch zuhause bestellte Landkarte („Irish Discovery Series 56; Wicklow, Dublin, Kildare; 1 : 50.000“) und nehmen einen der darin eingezeichneten Wanderwege ins Visier.
Doch bevor wir wandern, wollen wir Wasser sehen. Ein kurzer Abstecher führt uns an die Hafenpromenade von Bray. Das Städtchen Bray war ehedem so etwas wie das Brighton Irlands, ein mondäner Badeort vor den Toren Dublins. Doch der Zahn der Zeit nagt überall, und ähnlich wie die Moselorte, die einst von Tages- und Wochenendtouristen zehrten, dünnt sich der Strom der Gäste auch hier aus. Die Hotels am Strand haben ihre besten Tage längst gesehen; es ist zwar verfehlt, von „marode“ zu sprechen, aber nicht nur eines der Hotels kaschiert seine unschönen Seiten durch Tünche an der Vorderfront – und selbst die wirkt wie aus einer anderen Zeit.
Flugreisen sind halt nicht nur preisgünstig, sondern billig. Und wer das wechselhafte irische Wetter kennt und die Wahl hat zwischen, ich sag mal, Bray und Bangkok, dazu noch trotz seiner 70 Jahre rüstig und fit ist, steigt in den Flieger und gönnt sich Sonne prall.
Das hat seine gute Seite. Dort, wo wir Urlaub machen möchten, ist nämlich Platz satt. So auch am Strand von Bray. Sicher, Sandstrand sieht anders aus, jedenfalls weniger kiesig. Aber eine frische Brise unter der wärmenden Sonne schmeckt im wahrsten Sinne nach Meer – auch wenn es „nur“ die Irische See ist, die uns ihre salzige Luft sendet. Wir flanieren den übersichtlichen Strand hinauf und wieder hinab, lassen unsere Blicke über die Weite wandern und hinauf zu „Bray Head“, den 241 Meter hohen Berg, der sich gleich über dem Strand zu seiner vollen Größe erhebt.
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[Die Galerie zeigt weitere Impressionen unseres ersten Tags in Irland. Die Galerie lässt sich mit den beiden Buttons unten rechts “bedienen”. SL – der linke Button – löst eine Slideshow aus, mit FS – der rechte Button – wechselt man in den Vollbildmodus.]
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So schöpft man Kraft, und so kann ich mich auch vollgetankt in den betriebsamen irischen Kraftfahrzeugverkehr stürzen. Petra legt mir noch beschwichtigend die Hand auf den Unterarm, doch zu spät. Ich gebe bereits ordentlich Gas und hoppele los über kleine Nebenstraßen, die nicht viel breiter sind als eine Schubkarre, aber im Zweifelsfalle immer breit genug für mindestens zwei Fahrzeuge. Der Ire scheint seinen Gefallen an SUVs gefunden zu haben. Das stößt bei mir nicht auf Gegenliebe. Aber wir – mein Upgrade-Polo und ich – kutschieren ausreichend sicher bis zu den Füßen von „Kindelstown Hill“.
Der Parkplatz dort wird nur von wenigen Fahrzeugen heimgesucht, vornehmlich führen von hier aus offenbar Hundchen ihre Herrchen oder Frauchen durch den Wald.
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KurzInfo! Spaziere ich noch, oder wandere ich schon? Für manche scheint das eine existentielle Frage zu sein. Wenn ich dann in einer Amazon-Rezension lese, dass „früher der Sinn einer Wanderung“ eine Mehrtageswanderung von A nach B war, nicke ich nur. Ja, früher. Früher hausten die Wanderer auch in Höhlen und schossen sich ihre Wegzehrung mit Pfeil und Bogen selbst. Manche Menschen sollten wirklich früher gelebt haben, dann hätten wir heute Ruhe vor ihnen …
Womöglich möchten sie sich aber in unserer heutigen unüberschaubaren Massenwelt nur von anderen unterscheiden. Oder abheben. Das Abheben braucht das Ego ja manchmal. Dann taucht das kleine Egolein aus den Tiefen des Unterbewusstseins auf und zeigt sein hässliches Gesicht, wenn es sich selbst überhöht. Dann wachsen auch – im Vergleich mit anderen – die eigenen Leistungen ins Unermessliche. „Wandern? Erst ab 8000 Meter. Höhenmeter selbstverständlich.“ Ich mag das nicht (milde ausgedrückt). Wenn jemand sagt, er ist gewandert, dann ist er gewandert. Fertig.
Ein Wanderblogger hat jedoch ein Problem: Er möchte sich anderen nämlich mitteilen. Damit diese anderen einen Nutzen daraus ziehen, sollten sie abschätzen können, was dieser Wanderblogger unter „wandern“ versteht. Bei mir ist es wie folgt:
- In der freien Natur mit Rucksack: Wanderung
- In der freien Natur ohne Rucksack: Spaziergang
- In der Stadt mit Rucksack: Besichtigungstour
- In der Stadt mit Tüten und Ehefrau: Einkaufstour
Natürlich bin ich in der Natur immer mit Rucksack unterwegs. Somit sind alle meine Berichte Wanderberichte. So einfach kann das Leben sein – und auch das Wandern.
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Jeder erlebt eine Wanderung anders. Die eigene Befindlichkeit spielt immer eine Rolle. Bin ich ausgelaugt, mental angeschlagen, einfach schlecht drauf – oder geht’s mir saugut und ich könnte Bäume ausreißen? Je nachdem, spiegelt sich dann ein Wald anders in mir wieder: Anödend, langweilig und nicht spektakulär – oder aufregend, inspirierend, zum Kraft schöpfen. Da spielt es für mich auch nur die zweite Geige, ob der Wanderweg sich endlos lang durchs Gebüsch schlängelt, oder ob er so kurz ist, dass ein Hardcore-Wanderer nur einmal Husten muss, und schon ist er durch. Heute ist mir jede Wanderung recht. Ich brauche Wald. Jetzt. Mehr nicht.
Am Parkplatz informiert uns eine spartanische Schautafel über die möglichen Wege. Auch das Wegenetz ist spartanisch. Uns ist es egal. Die Strecke führt einige Hundert Meter durch locker gesetzten Mischwald. Wer um 1900 in Irland gelebt hat (die ganz Alten unter den Lesern werden sich erinnern), wird wissen, dass damals nur noch 1 % der Fläche Irlands bewaldet war. Schiffsbau, Metallverarbeitung und Glasherstellung fraßen sich durch die Wälder, jedenfalls die wenigen, die nach Cromwells Rodungswahn im 17. Jahrhundert übrig geblieben waren. Im 21. Jahrhundert sind wieder etwa 10 % vornehmlich mit Koniferen bewaldet. Naturwälder gibt es also keine, was in unseren Augen viele der Waldgebiete sehr aufgeräumt wirken lässt. Wie aufgeräumt manche der Wälder sind, sollten wir bei unseren Wanderungen an den folgenden Tagen noch sehen.
Der kleine Wald um den Kindelstown Hill aber wirkt nicht langweilig. Statt salziger Luft umweht nun kerniger Waldduft unsere Nasen, unsere Augen aber staunen, als wir oben angekommen sind. Eine Bresche zwischen den Bäumen, die mit felsigem Grund aufwartet, auf denen sich gut und gerne sitzen und speisen lässt, entlockt uns ein „Oh!“
Wir sehen Bray und andere Städte und Dörfer und Höfe. Wir sehen den Strand und die Küste. Wir sehen das Meer. Eine Sicht weit offen für unsere staunenden Augen – genau das, was uns nach der Anreise gefehlt hat. So bleiben wir sitzen oder stehen und schauen, bis die Augen müde werden.
Der Rückweg geht sich leicht. Wer mit schwermütigen Gedanken da hinauf kam, geht jetzt leicht beschwingt hinab. Am Parkplatz werfen wir noch einen langen Blick landeinwärts. Wir sehen nicht nur Schafe – was auch sonst -, sondern auch den „Great Sugar Loaf“, 501 Meter hoch, der sich wie Tolkiens „Schicksalsberg“ aus der flachen Landschaft hoch hinauf reckt.
Abends ruft uns noch einmal der Berg. Gut, es ruft nur „Brays Head“, den wir vom Strand aus bewundern konnten. Wir schaffen es auch nur einige Kurven weit auf bekiestem Wirtschaftsweg, bis wir gaffend vor einem Gatter stehen bleiben müssen.
Linkerhand weist uns dann noch ein sehr bissiges Schild darauf hin, dass auch in Irland mit Wachhunden nicht zu spaßen ist. Da meine Laune einfach zu gut ist, um mich mit einem Beißer anzulegen, beenden wir den Abend.
Das Hotel hat eine kleine Speisekarte, die wir nicht länger warten lassen wollen. Und bevor mir jemand das letzte Guinness vor der Nase wegtrinkt, fahren wir lieber zurück. Der nächste Tag wartet auf uns – mit den „Powerscourt Gardens“ und einer Wanderung zum höchsten Wasserfall Irlands.
[Die Google-Map zeigt den Kindelstown Hill. Das „Kleeblatt“ weist auf den Parkplatz hin, das „Fernglas“ auf den Aussichtspunkt, von dem aus wir den Blick bis zur Irischen See hatte. Die Karte kann mithilfe der links befindlichen Leiste gezoomt werden. Wenn man die orangefarbene Figur auf die Straße neben dem Kleeblatt setzt, gelangt man in die „Street-View-Ansicht“.]
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Guido
Posted at 09:52h, 14 AugustManchmal absurd, manchmal nachdenklich stimmend, aber genial die Definition von „wandern“ :-D
Georg
Posted at 12:05h, 14 AugustAber fehlerhaft! Ich habe „Wandern in der freien Natur mit Tüten“ vergessen, bin mir aber auch nicht sicher, ob das jetzt wirklich sozial akteptiertes Wandern ist.